Deutschlands neue Corona-Regeln verwandeln Mitbürger in Kontrolleure des Alltags Alexander Kissler 30.09.2020 NZZ Brachial ist gar kein Ausdruck: Warum einige der neuen Corona-Beschlüsse von Bundesregierung und Bundesländern eine lebensfremde Zumutung sind. Alexander Kissler, Berlin 181 Kommentare 30.09.2020, 12.03 Uhr Nicht ohne seine Maske: Deutscher Zugbegleiter auf einem Berliner Bahnsteig. Jochen Eckel / Imago Wenn es stimmt, dass der Ton die Musik macht, dann singt Deutschland gerade ein garstiges Lied. Es handelt vom brachialen Durchgreifen, von Zügeln, die anzuziehen seien, von schweren Monaten und einer schwierigeren Zeit und einem heimtückischen Virus. Ob nach diesem tatsächlich, wie oft behauptet wird, alles anders sein wird, weiss niemand. Wohl aber besteht kein Zweifel daran, dass Sars-CoV-2 schon heute die Rhetorik der Regierenden geändert hat, und zwar brachial. Das seinerseits brachiale Durchgreifen, das die Bundeskanzlerin intern gefordert haben soll, übersetzte sich am Dienstag in neue Beschlüsse von Bund und Ländern zur Eindämmung der Pandemie. Sie folgen einem Trend, der auf lange wie mittlere Sicht keine Freude bereiten kann: Der Alltag soll ins engmaschige Gitter immer neuer Regelungen, Empfehlungen und Verordnungen gepresst werden. Welche Zahlen sind gemeint? Wahrlich keine Freude bereiten auch «die Zahlen». Gemeint ist damit in Corona-Zeiten fast immer die Menge der neu positiv auf das Virus getesteten Menschen. Jüngst waren es in Deutschland knapp 1800 Personen an einem Tag, bei leicht sinkender Tendenz. Selten sind mit «den Zahlen» jene Menschen gemeint, die wegen einer solchen Infektion im Krankenhaus intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Das sind derzeit etwa 350 Personen in ganz Deutschland. Es wäre besser, niemand erkrankte derart schwer an Covid-19, dass er auf eine Intensivstation verlegt werden müsste. Doch die Zahl ist für ein Land mit 80 Millionen Einwohnern gering, und ebenso gering ist in Relation die Summe der gegenwärtig als infiziert erkannten Menschen. Sie liegt bei knapp 25 000, also rund 0,3 Promille der Bevölkerung. Selbst in der Bundeshauptstadt Berlin, der Angela Merkel brachiales Durchgreifen empfohlen haben soll, sind momentan nur 1676 Menschen oder 0,44 Promille der Bevölkerung nachgewiesenermassen infiziert. In Krankenhäusern intensiv behandelt werden hier 27 Einwohner, 0,007 Promille aller Berliner. Am Dienstag beschloss die Stadtregierung von Berlin, der Senat, eine Maskenpflicht in Büros und Verwaltungsgebäuden. Wer mit diesen anderen Zahlen «die Zahlen» kontert, wird auf die Zukunft verwiesen, auf «die schwierigere Zeit», die laut der Kanzlerin vor uns liegt, auf «schwere Monate voraus» – so der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet –, auf Wintermonate, in denen das «heimtückische» Virus «in einigen Regionen ausser Kontrolle geraten» könnte. Letzteres befürchtet der bayrische Ministerpräsident Markus Söder. Die Kanzlerin hat eine gewisse Routine darin entwickelt, die Zukunft anhand gegenwärtiger Zahlen zu extrapolieren, grammatikalisch gesprochen: das Futurum als Konjunktiv zu fixieren. Bis Weihnachten, bekräftigte Merkel, könnte die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf mehr als 19 000 steigen, sofern sich ein exponentielles Wachstum bis dahin fortsetze. Aus diesen Gründen, die der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Nutzanwendung verdichtete, «wir müssen uns mehr zurücknehmen», wird der Alltag in immer kleinere rechtliche Mikrosituationen zergliedert. Wirte und Friseure sollen ihre Kunden kontrollieren Auf einmal gilt wieder, was lange verschollen war: der feste Glaube daran, dass Paragrafen persönliche Beziehungen im Alltag stabilisieren. Bei der vorletzten Konferenz von Bund und Ländern Ende August wurde die Idee geboren, dem Zugpersonal die Kontrolle über die Maskenpflicht der Passagiere zu übertragen, einschliesslich einer Sanktionsmöglichkeit durch ein erhöhtes Beförderungsentgelt. Der Schaffner sollte Hilfspolizist spielen. In der Folge häuften sich die Berichte über tätliche Angriffe auf das Zugpersonal. Nun sollen Wirte Aufsicht über ihre Gäste führen. Im Beschluss heisst es, «die Pflicht zur Mund-Nasen-Bedeckung» werde «von den Ordnungsbehörden konsequent kontrolliert und sanktioniert». Bei «falschen persönlichen Angaben auf angeordneten Gästelisten in Restaurants» werde ein Bussgeld von mindestens 50 Euro fällig – in Nordrhein-Westfalen wird es 250, in Schleswig-Holstein bis zu 1000 Euro betragen. In der Pressekonferenz präzisierte die Kanzlerin, «die Betreiber der Einrichtung» würden bei Verstössen belangt, weshalb sie sich im Zweifel den Personalausweis zeigen lassen sollten «oder den Führerschein oder was auch immer». Selbst Friseure sollen so verfahren. Spätestens an diesem Punkt erhebt der Legalismus seine Fratze. Aus dem Willen, die Zügel anzuziehen (Söder), kann, um im Bild zu bleiben, der Gaul namens Freiheit totgeritten werden. Welcher Wirt wird sich inmitten einer Rezession von seinen Gästen einen Ausweis zeigen lassen, bevor er die Bestellung aufnimmt, weil ihn der Eintrag auf der Liste aus orthographischen oder sonstigen Gründen nicht überzeugt? Welcher Friseur wird eine Kundin, die er nicht kennt, peinlich befragen, ob sie wirklich und wahrhaftig so und genau so heisse? Eine solche Erwartungshaltung ist eine lebensfremde Zumutung. Merkels gestriger Satz – «wir wissen, dass wir im öffentlichen Raum besser kontrollieren können» – zeigt hier seine Nachtseite. Er stellt das private Leben unter Genehmigungsvorbehalt. Jede persönliche Beziehung ändert sich, wird sie primär als eine rechtliche betrachtet. Mit Corona ist nicht zu spassen: Das stimmt. Eine Seuche ist kein subjektives Gefühl, sondern eine objektive Drohung, die «Drohung einer massiven Ansteckung». Diese Einschätzung Markus Söders stimmt auch. Wenn aber individuelle «Vorsicht und Umsicht» (Laschet) überlagert und ausgestochen werden von der Verrechtlichung kleiner und kleinster Situationen, dann droht etwas anderes: die schleichende Gewöhnung an Mitbürger als Kontrolleure des Alltags.